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Folgen und Schäden durch sexuellen Missbrauch

Sexueller Missbrauch kann zu einer Vielzahl verschiedener kurz- oder langfristiger Folgen und Schäden führen. Viele Betroffene bleiben ihr Leben lang durch die Missbrauchserfahrungen geprägt und belastet. Die Schädigungen sind nach Einschätzung der meisten Autoren umso schwerwiegender

  • je grösser der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer, und besonders, wenn es sich um eine Differenz von einer Generation handelt;
  • je grösser die verwandtschaftliche Nähe, und besonders bei Autoritäts- und Vaterfiguren;
  • je länger der Missbrauch andauert;
  • je jünger das Kind bei Beginn des Missbrauchs;
  • je mehr Gewalt angedroht oder angewendet wird;
  • je vollständiger die Geheimhaltung;
  • je weniger sonstige schützende Vertrauensbeziehungen, etwa zur Mutter oder einer anderen Person bestehen.

Eine Gewichtung der einzelnen Faktoren lässt sich kaum vornehmen; jedoch ist davon auszugehen, dass die Traumatisierung und die Langzeitfolgen in dem gleichen Masse zunehmen wie die Anzahl der gegebenen Bedingungen.(7)

Zentrales schädigendes Element bei sexuellem Missbrauch, vor allem innerhalb der Familie, ist die langfristige Verwirrung, der das Kind auf kognitiver, emotionaler und sexueller Ebene ausgesetzt ist. Es ist frühzeitig sexuell stimulierter Pseudo-Partner und zugleich strukturell abhängiges Kind, und es wird möglicherweise noch durch Gewalt bedroht. Die Verwirrung hinsichtlich der Generationszugehörigkeiten und die Vermischung der Rollen einer (väterlichen) Autoritätsfigur und sexuellen Partners wird von den Missbrauchern häufig durch die möglichst vollständige Verleugnung der Tatsache, dass überhaupt sexuelle Handlungen stattfinden, aufrecht erhalten. So ereignet sich der Missbrauch oft in völligem Schweigen und in Dunkelheit. Die körperliche Nähe und die sexuelle Erregung stehen in direktem Widerspruch zur Negierung der Realität. Damit wird dem Kind die Möglichkeit genommen, die zentralen Aspekte dieser emotional intensiven und verwirrenden Erfahrung kognitiv und sozial sinnvoll zuzuordnen - und es ist darüber hinaus noch gezwungen, diese Verwirrung geheimzuhalten.

Sexueller Missbrauch setzt das Kind also nicht nur traumatischen Erfahrungen aus, durch die seine sexuellen Gefühle und Vorstellungen in einer Weise beeinflusst werden, die seinem Entwicklungsstand und der Qualität seiner Beziehungen nicht entsprechen; wenn es entdeckt, dass eine Person, die es liebt und zu der es in einer lebenswichtigen Beziehung steht, es missbraucht und verletzt, wird es auch in seinem Vertrauen zutiefst erschüttert. Dieser Verrat durch den Missbraucher kann durch die Reaktionen der Umwelt wiederholt und verstärkt werden, wenn das Kind bei seinen Versuchen, sich mitzuteilen und sich dem Missbrauch zu entziehen, keinen Glauben und keine Unterstützung findet.

Die grundlegende Missachtung seines Willens und die (fortgesetzte) Verletzung seiner körperlichen Integrität konfrontieren das Kind mit Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Und schliesslich wird es in seinem Selbstbewusstsein und seinem Selbstvertrauen geschädigt, wenn es die Gefühle der Scham (,dass es missbraucht wird), der Schuld (,weil es den Missbrauch nicht beenden kann) und der Wertlosigkeit (,weil seine Integrität zerstört wird) als dem eigenen Selbst zugehörig verinnerlicht. Auch hierbei können die Gefühle des Beschädigt- und Ausgestossenseins (Stigmatisierung) durch entsprechende Zuschreibungen von Seiten der Umwelt weiterhin verschlimmert und befestigt werden.

Schädigenden sexuellen Erfahrungen, Verrat, Ohnmacht und Stigmatisierung sind leider nicht nur missbrauchte Kinder ausgeliefert; das gleichzeitige Zusammentreffen aller vier Faktoren in der Missbrauchssituation ist es jedoch, was sexuellen Kindesmissbrauch von allen anderen, möglicherweise traumatischen Erlebnissen (wie etwa Scheidung der Eltern oder auch physische Misshandlungen) unterscheidet.

Das Ausmass der Schädigungen variiert in Abhängigkeit davon, wie sich im Einzelfall diese vier Faktoren wechselseitig verstärken oder abschwächen.

Als langfristige Folgen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen treten im Erwachsenenalter häufig auf:

  • Störungen der Sexualität und Partnerschaftsprobleme
  • Störungen in der Wahrnehmung eigener Gefühle (Verwechselung von Affektivität und Sexualität)
  • Gefühle der Wertlosigkeit, Scham, Schuld, Wut
  • Ablehnung des eigenen Körpers, selbstdestruktives Verhalten, Selbstmord(versuche)
  • Sexualisierung von Beziehungen
  • Störung der Sexualfunktionen
  • emotionaler Rückzug und soziale Isolation, Misstrauen
  • Depression
  • Gefühle, ausserhalb des eigenen Körpers zu sein (Dissoziation)
  • Alkohol - und Drogenmissbrauch
  • Angstzustände, Alpträume, angstmachende Tagträume
  • Schlaf- und Essstörungen
  • psychosomatische Beschwerden (vor allem Haut- und Magenerkrankungen)
  • Prostitution

Obwohl die genannten Störungen nicht nur infolge von sexuellem Missbrauch entstehen können, ist die Wahrscheinlichkeit, das Missbrauchsopfer unter einem oder meist mehreren dieser Symptome leiden, deutlich erhöht.


Reinszenierung als Versuch der Verarbeitung von sexuellem Missbrauch

Wer aus schlechten Erfahrungen nichts lernt, muss sie wiederholen. Wer andererseits aus schlechten Erfahrungen lernen will, muss sie vorher seelisch verarbeiten und sie dazu ebenfalls wiederholen, diesmal jedoch auf der symbolischen Ebene - im Gespräch, nachts in Traumgeschichten, nach Art der Kinder im Spiel oder gestalterisch wie Künstler.

Sexuell missbrauchte Menschen jeden Alters, die ihre seelisch traumatisierende Erfahrung noch nicht verarbeitet haben, wiederholen diese Erfahrungen in der Realität. Dies führt nicht zur notwendigen Verarbeitung, sondern kann im Gegenteil erneut zu seelischen Verletzungen führen. Die neue Verletzung ist dennoch eine Erleichterung gegenüber den sonst unausweichlichen Erinnerungen an das frühere Trauma, denn sie ist selbst gewählt, besser kontrollierbar und oft weniger gravierend.

Die Reinszenierung traumatischer Erfahrungen ist eine Möglichkeit, Rückerinnerungen und damit verbundene Gefühle zu vermeiden, also ein Abwehrmechanismus.Sie setzt die Dynamik seelischer Verletzung fort, anstatt sie zu heilen. Und in dieser Dynamik sind immer wieder die- selben Rollen zu finden: Täter, Opfer und Helfer. Erwachsene, die entgegen ihrer Überzeugung Gewalt ausüben, sich Gewalt aussetzen oder sich zur Hilfeleistung innerlich gezwungen fühlen, tun dies unter anderem, um belastende Gefühle abzuwehren.

Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welche sexuell missbraucht worden sind und die damit zusammenhängenden Gefühle nicht ertragen können, haben zur Reinszenierung zunächst die Wahl zwischen den drei Rollen: Opfer-, Täter- oder Helferrolle. In unserer Gesellschaft nutzen Frauen dazu häufiger die Opfer- und die Helferrolle, Männer öfter die Täter- und die Helferrolle. In wissenschaftlichen Untersuchungen zeigt sich die gesellschaftspolitische Bedeutung der


Reinszenierung traumatischer Erfahrung:

In der Opferrolle

Nach sexuellem Missbrauch verdoppelt sich das Risiko von Gewalterfahrungen in der Ehe und von Vergewaltigung, wie zwei entsprechende Untersuchungen zeigen.

In der Täterrolle

Unter Kriminellen ist der Prozentsatz derer, die als Kind sexuell missbraucht wurden, deutlich erhöht. Es gibt Untersuchungen, welche feststellten, dass sexuell missbrauchte Jungen eher kriminell oder drogenabhängig werden als andere.

In der Helferrolle

Die meisten Opfer sexuellen Missbrauchs werden jedoch später weder zu Opfern noch zu Tätern, sondern engagieren sich für dessen Beendigung aus eigener Betroffenheit heraus besonders nachdrücklich, so dass sie dabei manchmal selbst vergessen, sich wirksam von ihren traumatischen Erinnerungen zu befreien.

Wenn sexueller Missbrauch gesellschaftlich bekämpft und zukünftig verhindert werden soll, können diese Reinszenierungen von Gewalt nicht einfach als gegeben hingenommen werden. Auch kann es nicht erstrebenswert sein, etwa Situationen, in denen Männer (als Väter oder Stiefväter) allein in engen Beziehungen mit ihren abhängigen Kindern leben, gesellschaftlich stärker zu kontrollieren oder gar zu unterbinden, weil sie sexuellen Missbrauch begünstigen könnten. Vielmehr ist es längerfristig notwendig, darauf hinzuwirken, dass fürsorgliche Verantwortung und zärtliche, nicht-sexuelle Zuwendung auch für Männer positiv bewertete Verhaltensweisen werden, die sie in ihrer Männlichkeit nicht in Frage stellen.


Sekundäre Traumatisierung durch Strafanzeigen, polizeiliche Vernehmungen und Gerichtsverfahren

Die Gefahr sekundärer Schädigung nach sexuellem Missbrauch wird bereits seit einigen Jahren heftig diskutiert. Als gesichert kann gelten, dass besonders bei eher geringfügigen Delikten, etwa, wenn ein Fremder vor Kindern und/oder Jugendlichen seine Geschlechtsteile entblösst und masturbiert (Exhibitionismus), die Gefahr einer indirekten Schädigung durch wiederholte, intensive Befragungen unter Umständen gegeben ist.

Aber auch bei langjährigem sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie wird durch die Strafverfolgung des Täters nur bedingt eine Lösung des Problems oder endgültige Hilfe für die Betroffenen erreicht. Werden die Kinder in diesem Zusammenhang - um sie vor weiterem Missbrauch zu schützen - unvorbereitet aus der Familie herausgenommen, empfinden sie dies häufig als Bestrafung. Sie bleiben mit ihren Scham- und Schuldgefühlen allein, wenn sie nicht in eine Umgebung kommen, die mit ihren Erfahrungen richtig umzugehen weiss. Auch die folgende Vernehmung durch die Polizei - wie einfühlsam auch immer sie durchgeführt werden mag - kann die verzweifelten Schuldgefühle noch vergrössern, denn die Betroffenen müssen von Vorfällen berichten, an denen sie sich - wie unfreiwillig auch immer - beteiligt haben, so dass sie sich selbst oft nicht nur als Opfer, sondern auch als „Komplizen“ erleben.

Bis es zur Gerichtsverhandlung kommt, vergeht oft eine lange Zeit, in der die Kinder und Jugendlichen immer wieder von Selbstzweifeln und Unsicherheit befallen werden. Häufig führt dies und der Druck von Seiten der Familie dann zur Rücknahme der Aussagen und zu einer Einstellung des Verfahrens. Für die in die Familie zurückkehrenden Kinder kann dies die Fortsetzung des sexuellen Missbrauchs bedeuten. Die beschriebenen Schädigungen können dadurch noch erheblich verschlimmert werden.

Kommt es zu einem Strafprozess, so ist die Aussage des Kindes/Jugendlichen häufig das einzige Beweismaterial. Für das Kind höchst unangenehme Befragungen und eine Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit können die Folge sein. Zweifel und Schuldgefühle werden so noch weiter verstärkt, zumal oft auch von der Familie eher Vorwürfe erhoben und nur selten Verständnis oder gar Einsicht aufgebracht werden. Kommt es zu einem Freispruch wegen Mangel an Beweisen, so geht auch hier der Missbrauch meist weiter und die Möglichkeit einer erneuten Aufdeckung des Familiengeheimnisses ist für lange Jahre vertan.

Auch eine Verurteilung des Täters allein bedeutet für die Kinder und Jugendlichen keine Lösung ihres Problems, denn unter seiner Bestrafung leidet nicht nur dieser, sondern auch seine Familie, und damit auch das betroffene Kind. Der Familienzusammenhang ist trotz allem für das Kind von grosser Wichtigkeit und emotionaler Bedeutung und oft ist die Beziehung zum Missbraucher sogar die intensivste, die es in der Familie hat. Wird die Familie durch die Verurteilung des Täters auseinandergerissen und zerstört, bleibt das Kind unter Umständen allein mit dem Gefühl zurück, durch seine Offenbarung das Unglück herbeigeführt zu haben. Eine Verarbeitung seiner ohnehin schon traumatischen Erfahrungen wird dadurch zusätzlich erschwert.

Dennoch kann es notwendig sein, ein jüngeres Kind auch gegen seinen Willen aus der Familie zu nehmen. Wenn es nur auf diesem Wege möglich erscheint, das Kind vor weiterem schweren Missbrauch zu schützen, sollte aber in jedem Fall Sorge dafür getragen werden, dass es diese gewaltsame Trennung in einem therapeutischen Rahmen bearbeiten und bewältigen kann.

Bei Jugendlichen oder auch im Erwachsenenalter kann eine Verurteilung des Täters positive Auswirkungen haben, da durch sie das Rechtsempfinden und eine angemessene Zuweisung der Verantwortlichkeiten wieder hergestellt werden kann. Allerdings geschieht es auch nicht selten, dass sich die ehemaligen Opfer eines verurteilten Täters real oder infolge unverarbeiteter Schuldgefühle durch dessen angekündigte oder befürchtete Rache massiv bedroht fühlen, was bis zu freiwilligen Klinikaufenthalten oder einem weiteren Leben in ständiger Angst führen kann.

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung der Senatsverwaltung Berlin zur Verfügung gestellt.